Das Heer der Unsichtbaren

Indien ist eine vielschichtige Gesellschaft. In den Megacities trifft man nicht nur heilige Kühe und wenig beachtete Hunderudel. Es gibt auch ein Heer unsichtbarer menschlicher Helfer, wie Kolumnistin Margrit Leuthold berichtet.

Margrit Leuchthold
Margrit Leuchthold

Ja, es gibt sie noch, die heiligen Kühe, welche das indische Stadtbild pr?gen. Selbst in einer Millionenstadt wie Bangalore sind sie h?ufig anzutreffen. Meist allein, selten in kleinen Gruppen, wühlen sie in Abfallhaufen herum, kreuzen gelassen belebte Strassen und verschwinden irgendwo im Dickicht der H?user. Anscheinend haben sie alle irgendwo einen Besitzer. Da aber Raum sehr kostbar ist und die wenigsten Bewohner Platz für einen Stall haben, laufen die Kühe frei herum, verloren im Strassen- und Verkehrsgewirr.
Viele verenden kl?glich, mit teilweise mehr als 30 Kilogramm Plastik im Magen. Man wünscht sich, dass sie wenigstens einmal im Leben die Erfahrung einer frischen Schweizer Weide mit saftigem Gras, Sonne und Luft h?tten machen dürfen.

Neben den Kühen sind auch überall Hunde zu sehen. Hunderttausende, ja vielleicht Millionen Strassenhunde gibt es in Bangalore. Alle vom selben Typ: kurzhaarig, mittelgross, mager und schlau. Sie sind überall, auch sie Profiteure der morgendlichen Abfallberge, aber auch des Mitleids und der Tierfreundlichkeit der Inder, die h?ufig Futter an bestimmte Stellen legen. Eine Markierung im Ohr kennzeichnet diejenigen, welche grossfl?chig und systematisch geimpft und sterilisiert wurden. Sie stehen vor den wenigen Rotlichtern, erkennen, wann sie eine Strasse sicher überqueren k?nnen und leben ihr unabh?ngiges Leben. Oft sind sie nicht schnell genug, werden angefahren und hinken kl?glich auf drei Beinen davon. Erst nachts k?nnen sie gef?hrlich werden: Hunderudel verfolgen Radfahrer und Fussg?nger und ?fters wird von n?chtlichen Attacken berichtet.

Und es gibt Schw?rme von Milanen, welche am Himmel kreisen. Manchmal sind es Dutzende, die von der Thermik über dem Asphalt und wohl auch von Kadavern und Abf?llen profitieren. Am Abend werden sie von den Flughunden abgel?st, welche in die Jagdreviere ziehen. Dann sind es nicht Dutzende, sondern Hunderte, welche lautlos durch den Nachthimmel ziehen, alle in eine Richtung, mit unbekanntem Ziel.

Hinzu kommen die Menschen, von denen man selten spricht, die tagein tagaus unverzichtbare Dienste leisten, ohne Anerkennung, und unter fragwürdigen Bedingungen. Ich meine zum Beispiel die Strassenwischer, oft Frauen, welche langsam und stundenlang in gebückter Haltung, Abfall, Bl?tter und Staub zusammen wischend, den Strassenr?ndern entlang wandern; unsichtbar für die meisten, eine Selbstverst?ndlichkeit, deren Existenz man kaum noch wahrnimmt.

Und dann die W?chter, die vor ?ffentlichen und privaten Geb?uden stehen. Die Meisten arbeiten für G4S, eine der weltweit gr?ssten Sicherheitsfirmen mit 620‘000 Angestellten in 125 L?ndern. Auf der Web-Seite der Firma werden sie als ?Frontline Manager? bezeichnet, eine wohl etwas euphemistische Umschreibung. Gerade in Indien, wo Arbeitskr?fte billig sind, ist es in Mode gekommen, vor jedes Haus einen W?chter zu stellen. Ein bekannter indischer Kolumnist schrieb kürzlich von dem Heer junger Inder, welche sich in schlecht sitzenden Uniformen zu Tode langweilen. Zirka 150 Franken pro Monat verdienen sie für 12-Stundenschichten. Sie stammen oft aus den n?rdlichen ?rmsten indischen Staaten wo sie ihre Familien zurück lassen. Dennoch sind es meist freundliche und zuvorkommende Menschen, die ihr Los zumindest ?usserlich mit stoischer Ruhe annehmen.

Und das Heer von Bediensteten, ohne die kein indischer Haushalt des Mittelstands auskommt; auch die junge Generation von Inderinnen und Indern erachtet sie als selbstverst?ndlich. Frauen und M?nner jeglichen Alters und Abstammung huschen durch die Strassen, um einzukaufen, bevor sie dann wieder in die H?user verschwinden, um alle h?uslichen Pflichten zu erledigen.

All diese Menschen und noch viele mehr, meist nicht wirklich gesch?tzt und dennoch unverzichtbar, sind auch ein Teil der unglaublich komplexen, vielf?ltigen indischen Gesellschaft. Eines der wichtigsten Anliegen an und in Indien ist das ?Inclusive Development? - also eine Entwicklung, welche die Bedürfnisse der armen und ausgeschlossenen Teile der Bev?lkerung, gesch?tzte 60 Prozent, mit einschliesst. Es bleibt zu hoffen, dass im Indien von morgen die Unsichtbaren sichtbar werden.

 

 

Zur Person

Margrit Leuthold leitet seit August 2012 externe Seiteswissnex India, das in Bangalore ans?ssig ist. Hauptziel der swissnex ist es, den Austausch im Bereich von Bildung, Forschung, Technologien und Innovation zu unterstützen und die Institutionen des Schweizer Hochschul- und Forschungsbereichs international zu vernetzen. Sie pflegen einen engen Austausch mit Universit?ten, Forschungsinstituten und Unternehmen in der Gastregion und führen wissenschaftliche und kulturelle Anl?sse durch. Davor leitete die promovierte Biologin bis Juli 2012 den Bereich Internationale Institutionelle Angelegenheiten der ETH Zürich. Für die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften war sie acht Jahre lang als Generalsekret?rin t?tig. Neben ihrer beruflichen T?tigkeit erholt Margrit Leuthold sich in den Bergen und beim Sport. Sie ist eine begeisterte Kinog?ngerin und liest sehr gern.

 

?hnliche Themen

JavaScript wurde auf Ihrem Browser deaktiviert