«Die Verliererin ist die gesamte Schweiz»

Kein Zugang zu prestigetr?chtigen Stipendien, gekappter Einfluss auf die europ?ische Forschungspolitik und sinkende Attraktivit?t für Partner und Forschende: So beeinflusst der Ausschluss aus ?Horizon Europe? die ETH Zürich und die Schweiz.

Horizon
(llustration: Oculus Illustration)

Als der Bundesrat am 26. Mai vor die Medienschaffenden tritt, um den Abbruch der Verhandlungen über ein Rahmenabkommen mit der Europ?ischen Union zu verkünden, stellen sich Sofia Karakostas und Agatha Keller auf intensive Monate ein. Die beiden leiten das von der ETH Zürich und der Universit?t Zürich gemeinsam betriebene Büro für internationale F?rderm?glichkeiten – kurz EU GrantsAccess. Karakostas und Keller unterstützen Forschende dabei, Drittmittel aus internationalen T?pfen einzuwerben. Und beim weltweit gr?ssten und wichtigsten F?rdertopf, dem ?Horizon Europe?-Programm der Europ?ischen Union, droht der Schweiz nach dem Entscheid des Bundesrats das Aus. Auf dem Spiel stehen neben zig Millionen an F?rdergeldern nichts weniger als der Einfluss auf die inhaltliche Ausrichtung der europ?ischen Forschung und die Attraktivit?t der Schweizer Hochschulen.

Keller und Karakostas sind nicht leicht aus der Ruhe zu bringen. Seit über 20 Jahren leiten die beiden das EU GrantsAccess. Gemeinsam mit ihrem Team haben sie schon die schwierige Zeit nach der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative 2014 gemeistert, als die EU erstmals die Teilnahme der Schweiz an den Ausschreibungen für ?Horizon Europe? blockierte. Mitte Juni geben sie sich zun?chst optimistisch und informieren Forschende, dass das Scheitern des Rahmenabkommens vorerst keinen Einfluss auf den Status der Schweiz bei ?Horizon Europe? hat. Nur wenige Tage sp?ter kommt es dann doch anders: Die Europ?ische Kommission h?lt in einem Dokument explizit fest, dass die Schweiz bei den Eingaben von Forschungsprojekten als nicht assoziierter Drittstaat behandelt wird. Doch was bedeutet dieser Entscheid konkret für ETH-Forschende, die ETH und den Forschungsstandort Schweiz?

Nicht mehr mit den Besten messen

?Besonders schlimm trifft es wohl junge Forschende an Schweizer Hochschulen, denn sie k?nnen sich nun nicht mehr für die begehrten europ?ischen Stipendien bewerben?, betont Nicola Spaldin, Professorin für Materialtheorie an der ETH. Spaldin vertritt die Schweiz im Europ?ischen Forschungsrat (ERC), dem Ort, wo über die europ?ische Forschungspolitik beraten wird. Sie kennt das europ?ische Forschungssystem wie kaum eine andere und hat neben zahlreichen Preisen selbst bereits zwei ERC-Grants eingeworben. Sowohl die Marie-Curie Stipendien für Postdoktorierende als auch die ERC Starting Grants sind wichtige Meilensteine in der Karriere junger Forscherinnen und Forscher. 

?Es ist ein bisschen so, als würde man dem Schweizer Olympiateam sagen, dass es anstatt in Tokio nur an nationalen Wettk?mpfen teilnehmen darf.?Nicola Spaldin, Professorin für Materialtheorie

Spaldin ist es wichtig zu betonen, dass es hier nicht nur um Geld geht. Auch wenn das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) die Mittel aus Brüssel ersetzt, entstehen grosse Nachteile: ?Es ist ein bisschen so, als würde man dem Schweizer Olympiateam sagen, dass es anstatt in Tokio nur an nationalen Wettk?mpfen teilnehmen darf. Sie bekommen zwar das Preisgeld, k?nnen sich aber nicht mit den Besten messen?, erkl?rt Spaldin. ?Wer nicht die Chance hat, an den wichtigsten Stipendien und Projekten teilzunehmen, überlegt es sich zweimal, in die Schweiz zu kommen, oder verl?sst sie sogar.?

Grosse Nachteile für die Karriere

Wie viele andere Postdoktoranden hat Stefano Maffei ein Ziel: Professor zu werden. Nach Forschungsaufenthalten in England und den USA ist der 34-j?hrige Geophysiker seit knapp drei Monaten zurück an der ETH Zürich. Maffei bewarb sich letztes Jahr für ein Marie-Curie-Stipendium, scheiterte aber aufgrund weniger Punkte. Die EU-Kommission empfahl ihm, seinen Antrag leicht anzupassen und erneut einzureichen. Die Chancen stünden diesmal sehr gut.

Doch aktuell ist Maffei nicht mehr dazu berechtigt. Er müsste an eine Hochschule in der EU oder in einem assoziierten Drittstaat wechseln, um eine Bewerbung einreichen zu k?nnen. Für die n?chsten zwei Jahre ist der italienisch-schweizerische Doppelbürger noch über ETH-Mittel finanziert, doch was danach passiert, ist unklar. Verl?sst er die Schweiz, oder gar die Wissenschaft?

Seine gr?sste Sorge ist aber nicht das Geld, denn es gibt alternative, nationale F?rdermittel, die erfolgreichen Forscherinnen und Forschern wie ihm zur Verfügung stehen. Was schwerer wiegt, ist, mittel- bis langfristig weniger kompetitiv zu sein. ?Ein Marie-Curie-Stipendium w?re für mich ein wichtiges Sprungbrett auf dem Weg zu einer Professur?, sagt Maffei. ?Es w?re ein wichtiger Leistungsausweis, der bei Berufungsverfahren den entscheidenden Unterschied macht.?

Die ETH verliert an Einfluss

Nachteile entstehen aber keineswegs nur jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Auch Spitzenforscher wie ETH-Professor Domenico Giardini sind betroffen. Wie kaum ein anderer pr?gt der Erdbebenforscher die europ?ische Seismologie. Unter seiner Führung koordinierte die ETH millionenschwere Infrastrukturprojekte, um das Risiko von Erdbeben besser einsch?tzen zu k?nnen. ?Wer grosse, europaweite Projekte koordiniert?, erkl?rt der Schweiz-Italiener, ?beeinflusst, wohin sich die Erdbebenforschung in Zukunft entwickelt.?

Nur jene Hochschulen, die in solchen wegweisenden Projekten eine Führungsrolle einnehmen, haben Zugang zu den neuesten Daten und sind attraktiv für die besten K?pfe. ?Verlieren wir diesen Status?, so Giardini, ?ist mittelfristig auch unsere Spitzenposition in den Rankings in Gefahr.? Und Giardini weiss, wovon er spricht: Es ist vor allem ihm und seinen Kollegen am Departement für Erdwissenschaften zu verdanken, dass die ETH im Bereich Geophysik die weltweite Nummer eins ist, noch vor Oxford, Harvard oder dem MIT.

?Für die ETH Zürich ist die vollassoziierte Teilnahme der Schweiz an Horizon Europe unerl?sslich?Detlef Günther, Vizepr?sident für Forschung an der ETH Zürich

Die Vollassoziierung ist unerl?sslich

Jahrzehntelange Aufbauarbeit, die Schweizer Forschende im Rahmen von kollaborativen Projekten geleistet haben, ist nun gef?hrdet. Denn Hochschulen aus nicht assoziierten Drittstaaten dürfen keine ERC-Projekte mehr koordinieren. Besonders deutlich werden die Folgen bei dem Projekt ?Digital Twin?: Um die Erdbebengefahr, aber auch die Klimaentwicklung bestm?glich zu simulieren, soll ein hochpr?zises digitales Modell der Erde entstehen. Bis anhin war die ETH in diesem Bereich federführend, doch nach dem Entscheid der EU-Kommission hat sie ihre Führungsrolle bereits an eine spanische Hochschule abgeben müssen. ?Wir k?nnen gerade zusehen, wie wir an Einfluss und Prestige verlieren?, sagt Giardini. ?Für die ETH Zürich ist die vollassoziierte Teilnahme der Schweiz an ?Horizon Europe? unerl?sslich?, betont Detlef Günther, Vizepr?sident für Forschung an der ETH Zürich. Das gr?sste Forschungsf?rderprogramm der Welt k?nne schlicht nicht durch eigene F?rderinstrumente, nationale Programme oder bilaterale Abkommen ersetzt werden.

Die Nichtassoziierung der Schweiz gef?hrdet Günther zufolge auf Dauer nicht nur die Rekrutierung hochkar?tiger Forschender und Talente, sondern erschwert in wichtigen Forschungsgebieten die Zusammenarbeit mit europ?ischen Partnern. ?Zusammengenommen k?nnten die Vernetzungs- und Wettbewerbsnachteile zu einem Reputationsverlust der Schweizer Hochschulen führen und ihre Bedeutung in der internationalen Forschung beeintr?chtigen. Die Verliererin ist letztlich die gesamte Schweiz?, gibt Günther zu bedenken.

?hnlich wie 2014, als sich die Schweiz und die EU nach einigen Monaten auf eine Teilassoziierung einigten, liegt der Ball nun bei der Politik. Bis eine politische L?sung vorliegt, werden Sofia Karakostas, Agatha Keller und ihr Team des EU GrantsAccess wohl weiterhin mit zahlreichen Anfragen konfrontiert sein. Doch eines ist sicher: Wenn die Politik die richtigen Weichen stellt, werden die Forschenden gerüstet sein, sich erneut mit den klügsten K?pfen Europas zu messen

Dieser Beitrag stammt aus der aktuellen Ausgabe des ETH-?Magazins ?life?.

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